Schau mir ins Gesicht
Wir gratulieren!
Erneut ist Miriam Treitinger aus der Q12 Preisträgerin des Europäischen Literaturwettbewerbs aus Graz geworden. Unten ist ihr preisgekrönter Text zu lesen. Miriam ist auch im Rahmen des P-Seminars »Schreiben« an unserer Schule kreativ.
Wir sagen: Herzlichen Glückwunsch!
Annette Drews
Schau mir ins Gesicht!
Manchmal muss man der Wahrheit ins Gesicht schauen:
Im Herbst färben sich die Blätter
nicht bunt sondern braun
Das Glas ist nicht halb leer
sondern ganz
Du hast es mir weggetrunken
Manchmal muss man der Wahrheit ins Gesicht schauen:
Tagträume sind nicht zufriedenstellend
aber besser als nichts
wie ein Gramm des gestreckten Originals
zusammengekratzt vom Boden einer
öffentlichen Toilette
Manchmal muss man der Wahrheit ins Gesicht schauen
aber ich schaue lieber aus dem Fenster:
Ganz viele Raben und noch mehr
kalte Luft kalte Gedanken kalte Menschen
oder auch nicht sitzen im Zug die Raben
fliegen weg wie meine Gedanken die eckig
kreisend in der Leere stehen im leeren Raum
die kalte Leere
Leere Plätze leere Menschen leere Köpfe
oder auch nicht
ich kann es ja nicht
wissen
Bäume ragen hochtief in den Himmel und
fallen nicht um weil es ihnen nicht in den
Kopf kommt
Hoffentlich ist ihnen nicht schwindelig dort oben
das wäre schlecht
Ich höre: Leute auf vielen Sprachen sprechen
aber nicht mit mir
um mich nicht mit unangenehmen Gedanken auseinanderzusetzen
formuliere ich sie nur auf Russisch
ich kann kein Russisch
Sprache heißt was gesprochen wird aber
sie wird auch geschrieben und gesungen
und besungen wie gerade hier
ein geschriebenes Besingen der Sprache
Im Zug wird es wieder leiser aber die Erschöpfung
macht sich aus allen Richtungen zu hören
also vorne und hinten weil ein Zug nicht so breit ist
Ich höre: Vierzig Minuten Verspätung
ich verpasse den Anschlusszug
aber das war klar denn ich
habe den Blick nicht abgewandt und weiß
ich habe noch nie Anschluss gefunden
Miriam Treitinger