Eule
Städt. St.-Anna-Gymnasium

Erlösung — Eine Geschichte

Es war wieder so weit. Emil stand in irgendeiner Wohnung in irgendeinem Stadtteil. Er betrachtete den Mann vor ihm, dieser hatte ein gutes dutzend Stichwunden, die recht stark bluteten. Noch lebte dieser, aber es war nur eine Frage von Minuten, bis er sterben würde. Daran konnte auch Emil nichts ändern, egal was man tun würde. So setzte er sich neben ihn und sagte: »Wissen Sie, ich weiß nicht, warum das passieren musste.« Vom Boden starrte ihn der Mann mit weit aufgerissenen Augen an, schien irgendetwas entgegnen zu wollen, brachte jedoch nichts als ein ersticktes Gurgeln zu Stande. »Schhh«, sagte Emil ruhig »schonen Sie sich. Es dauert nicht mehr lang und sie sind ja nicht allein.« Eine Stille, die nur vom gelegentlichen Keuchen des Mannes unterbrochen wurde, trat ein. »Glauben Sie eigentlich an Gott?« Keine Antwort. »Persönlich denke ich, dass es keinen außer uns selbst gibt, der auf uns aufpasst, denn sonst wäre so etwas hier gar nicht möglich und jemanden wie mich würde es nicht geben.« Emil sah zu Boden, der Mann wirkte verängstigt. »Oh, tut mir leid, ich wollte Sie nicht beunruhigen, aber wenn ich Recht haben sollte, dann dürfte der Tod wie ein Schlaf sein, nur mit dem Unterschied, dass Sie nicht mehr aufzuwachen brauchen. Sie können auf ewig in Frieden ruhen. Ich auf der anderen Seite muss weiter in diesem Terror leben.

Sie haben eigentlich Angst davor, dass Sie etwas verpassen, oder?« Immer noch keine Antwort. »Aber auch diese Angst kann ich Ihnen nehmen, denn alles, was noch vor ihnen stünde, hat eine noch schlimmere, nein, eigentlich bösartigere Kehrseite: Freundschaft zerbricht, Liebe vergeht und Familie erst... Glauben Sie mir, es ist besser all diesen Schmerz nicht spüren zu müssen. Ich meine, verdammt, ich beneide Sie fast! Sie kennen Ihre Familie nur als liebend und ihre Freunde nur als unterstützend. Sie gehen, bevor der Schmerz und die Enttäuschung eintreten.« Der Mann sackte weiter in sich zusammen, er war schon deutlich schwächer geworden. Die Blutlache hatte inzwischen schon Emils Schuhe erreicht, es schien ihn aber nicht zu stören. »Eine Sache sollten Sie erfahren, bevor Sie gehen: Jetzt gerade sind Sie mir der liebste Mensch, der einzige sogar, dem ich vorbehaltlos trauen darf. Denn Sie werden mich nie hintergehen, mich nie betrügen, mich nie verleugnen. Ich denke, das ist der Grund, warum ich all das tue, weil ich Menschen brauche, denen ich vertrauen kann. Und jetzt gerade kann ich nur Ihnen vertrauen.«

Nach diesen Worten schwieg Emil gemeinsam mit dem Mann, der nun wohl für immer schweigen würde, und fühlte diesen tiefen inneren Frieden, die Wahrheit erzählt zu haben. Nun tastete er vorsichtig nach dem Puls des Mannes, strich ihm sanft die Augen zu und zog behutsam sein Messer aus dessen Brust. Zuletzt schloss er ihm fürsorglich die Jacke und erhob sich. Anschließend ging er aus der Tür, zog sie hinter sich zu und schlenderte nach draußen. Er atmete tief durch und sah ein letztes Mal zurück, bevor er in den nach frischem Brot duftenden Straßen des erwachenden Städtchens verschwand.

Victor Stahl