Ausnahmezustand
20:00 Uhr, Nachrichten: Deutschland befindet sich aufgrund der Pandemie im Ausnahmezustand.
Darauf lächelte Markus höhnisch, sein ganzes Leben war bisher ein einziger Ausnahmezustand gewesen, da würde eine Pandemie schon nichts Besonderes sein. Heute würde wieder nur ein langweiliger Krimi laufen, so stand er auf, ging in die Küche und holte sich noch einen Schnaps. War schon der Fünfte heute, also noch weniger als normal dachte er, man hatte ihm zwar gesagt es solle die Ausnahme bleiben, dass er mehr als zwei pro Tag tränke, jedoch wurde es ihm schnell zur Gewohnheit mehr zu trinken.
Auf dem Rückweg bemerkte er im Flur den, unter dem Wäscheberg fast nicht mehr zu sehenden, Wäschekorb, der so langsam zu stinken anfing. Auch sehnte er sich nach der Zeit, als er noch bei seinen Eltern lebte; alles war noch wunderbar einfach, er hatte eine ganz normale Schwester, ganz normale Eltern, ein ganz normales Leben. Bis zu dem Tag, an dem der Unfall geschah, ein dunkler Tag so dunkel wie die Wolken vor seiner Tür, er dachte nicht gern daran, denn ab dem Tag schien alles aus dem Ruder zu laufen. Seine Schwester und er kamen bei ihrer Tante unter, vielleicht hätte alles wieder gut werden können, doch es kam anders. Seine Schwester fand ihr Ventil in der Kunst und isolierte sich zunehmend von ihm, während er seines im Alkohol fand. Bald fand er auch die üblichen falschen Freunde, machte einige dumme Sachen und landete im Heim. So führte eins zum anderen und nun stand er da im Flur, nur in Unterhose und Unterhemd, welche jetzt auch schon nicht mehr ganz ihre ursprüngliche Farbe hatten, den achten Schnaps in der Hand, einen stinkenden Wäschehaufen betrachtend.
Er ging weiter und setzte sich. Er betrachtete das letzte Geschenk seiner Schwester, er hatte ihm einen Ehrenplatz über dem Fernseher gegeben. Aber natürlich hatte er es wieder verbockt, er hatte zu nah an der Wasserleitung gebohrt. Er hätte etwas tun können, aber er war wie gelähmt. Die Wand wurde dunkel, erst nur um dann Nagel dann breitete sich das Grau aus. Das Wasser erreichte das Bild, ihr Bild, ihr wunderschönes Bild, der bunte Fantasiebaum, unter dem die beiden darauf saßen, fing an sich aufzulösen. Er wurde zu einem einzigen grau/braun Ton, der anfing alles zu verschlingen. Jetzt konnte man nichts mehr darauf erkennen, dennoch hatte es immer noch den selben Ehrenplatz über dem Fernseher, wo er es immer sehen konnte. Er starrte es an, inzwischen haben die Detektive die Leiche gefunden.
Er hatte es verloren, wie er sie verloren hatte. Sie war jetzt nur noch ein verschwommenes Abbild von etwas das er einmal sehr gern hatte. »Ich hasse dich!«, brüllte er in den Raum, er wusste eigentlich nicht wen aber irgendwie hasste er plötzlich alles. Eine viel zu lang angestaute Wut brach los.
Er sackte an der Wand zusammen, sein Blick schweifte ziellos durch das heillos verwüstete Zimmer. Eine Träne floss ihm über die Wange. Ich will nicht mehr, murmelte er in sich hinein, während er sich anzog. Als er hinaustrat, regnete es, er trug ein T-Shirt und kurze Hosen, aber bei dem, was er vorhatte, war das eigentlich eh egal.
Victor Stahl, Q11