Schülerzeitung »mesSAGe« goes digital — Interview
Interview zur Zeit vor und nach dem Mauerfall
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Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Interview Zeit genommen haben. Zuerst mal die grundlegenden Fragen. Wie heißen Sie?
(Name der Redaktion bekannt)
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Und wie alt sind Sie?
53.
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Sie sind ja in der DDR aufgewachsen. Wo genau?
In Usedom. Das ist die Stadt auf der gleichnamigen Insel.
»Was normal war, war dass die Eltern einem immer eingeschärft haben, was zu Hause gesprochen wird, darf nicht in der Schule wiederholt werden«
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Wir beschäftigen uns gerade in Geschichte mit der Zeit um den Mauerfall. Darüber hätte ich jetzt an Sie ein paar Fragen. Zuerst einmal, wie war es denn so in der DDR aufzuwachsen? Wie kann man sich das vorstellen?
Wo soll ich da anfangen. Was normal war, war dass die Eltern einem immer eingeschärft haben, was zu Hause gesprochen wird, darf nicht in der Schule wiederholt werden. Weil das zu gefährlich war. Wenn man etwas gesagt hat, was irgendwie nicht staatsgerecht war konnte das gleich Konsequenzen haben, das war das Erste, was man als Kind mitbekommen hat. Wir hatten auch ein anderes Schulsystem, waren von der 1. bis zur 10. Klasse zusammen, und dann musste man sich für die 11. und 12. Klasse bewerben, wenn man Abitur machen will. Da hatten manche Kinder gleich von vornherein einen Nachteil, zum Beispiel wenn man Kind von einem Pfarrer war, hat man meistens keinen Platz bekommen. Meine ältere Schwester hätte fast kein Abitur machen dürfen, weil wir damals noch eine private Bäckerei hatten und damit nicht Teil der Arbeiterklasse, sondern kleinbürgerliche Elemente waren, und das wurde in der DDR versucht auszumerzen. Als ich in die 11te kam, waren wir dann aber schon verstaatlicht worden, Anfang der 70er Jahre.
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Und wie haben Sie das wahrgenommen, dass Unterschiede zum Westen bestanden? Kam das einem komisch vor?
Wenn man so groß wird, ist es in dem Sinne normal, dass man nichts anderes kennt. Dass es woanders aber anders ist, kriegt man schon ein bisschen mit. Wir hatten ja viel West-Verwandtschaft und hatten auch West-Fernsehen. Wir wussten also, dass es auch durchaus anders sein kann. Aber auch durchaus woanders schlechter, wir haben auch gesehen, wie es bei den Russen war. Da haben wir fast noch einen Luxus gelebt gegenüber denen. Mein Vater hatte zu DDR-Zeiten die zweithöchste Westantenne der Stadt gehabt mit einem sehr hohen Mast mit 4 gleichgeschalteten Antennen drauf, um noch ein bisschen was zu empfangen vom nächsten Sender in West-Berlin. Er hat alles investiert, was möglich war, um noch etwas West-Fernsehen zu bekommen.
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Und wie haben Sie die Wende erlebt?
Als die Wende kam, habe ich im 5. Semester in Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz) studiert. Wir haben in einem Studenten-Wohnheim gewohnt. Das mit den Kommunikationsmitteln war damals anders als heute, wir hatten keinen Fernseher, keinen Rechner, kein Telefon, wir hatten nur das Radio oder Briefe. Trotzdem haben wir ein bisschen was mitbekommen, es gab bei uns auch Proteste und wir sind mal nach Leipzig zu so was gefahren, bevor das ganz extrem wurde. Plötzlich durften wir, als die Grenzen dicht gemacht wurden, auch nicht mehr in die Tschechoslowakei fahren oder nach Ungarn. Den eigentlichen Maueröffnungstag haben wir gar nicht richtig mitbekommen, wir hatten an dem Tag kein Radio angemacht gehabt. Wir haben es erst am nächsten Tag mitbekommen, da waren die Grenzen offen. Ich war erstmal so »das glaube ich nicht. Das ist Quatsch!«. Das konnte man sich gar nicht vorstellen.
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Was haben Sie dann die Zeit nach dem Mauerfall gemacht?
Ich habe erstmal weiterstudiert. Wir hatten dann das Fach Marxismus-Leninismus nicht mehr und die Prüfung fiel aus. Interessanterweise ist einer unserer Vorlesenden in diesem Fach dann der NPD beigetreten. Und wir sind dann das erste Mal eineinhalb Wochen nach dem Mauerfall in den Westen gefahren.
»Und das Allererste, was mir aufgefallen ist, war, dass die Häuser Farbe haben«
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Und wie war es dann so in den Westen zu kommen. Was war anders als in der DDR?
Wir sind von Thüringen aus über die Grenze nach Kronach reingefahren. Und das Allererste, was mir aufgefallen ist, war, dass die Häuser Farbe haben. Bei uns waren ja die Häuser fast alle grau und da hatten die Häuser plötzlich Farbe. Und das zweite, was mir aufgefallen ist, war, dass alte Häuser nicht unbedingt hässlich sein müssen. Bei uns wurden alte Häuser einfach runtergewirtschaftet und dann weggerissen. Da habe ich zum ersten Mal erlebt, dass man ein altes Haus auch restaurieren kann und das dann richtig super aussieht. Auch der Zustand der Straßen war besser und auf den Fernstraßen gab es diese Nachtreflektorpfosten. Die gab es in der DDR offiziell auch, aber kaum eine Straße hatte das gehabt. Und wenn man im Westen nachts fuhr, dann leuchtete einem dann plötzlich alles entgegen, das war für uns sehr ungewohnt. Und dann natürlich Geschwindigkeitsbegrenzungen. Als ich das erste Mal da Trabbi mitgefahren bin, auf der Autobahn über die Grenze, kam plötzlich das Schild »maximale Geschwindigkeit: 120«. Da haben wir uns in dem Auto erstmal kaputtgelacht. Weißt du auch warum?
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Kann ein Trabbi den überhaupt so schnell fahren?
Kann er natürlich nicht. Bei 100 dröhnte der dir schon fast das Gehirn raus, 120 hätte er nicht mal annähernd geschafft. Das Schild war für uns zu diesem Zeitpunkt sehr lustig. Das war auch so ein Schlüsselerlebnis. Auch gab es im Westen plötzlich Obst, das wir schon lange nicht mehr gesehen hatten und der normale DDR-Bürger gar nicht kannte. Kiwis gab es zum Beispiel bei uns gar nicht, ich hatte sie nur durch meine West-Verwandten schon mal gesehen. Oder Ananas, die es bei uns bestenfalls in Dosen gab. Wir wussten gar nicht, wie die Frucht an sich aussah. Und viele Sorten Brot und Brötchen, die selbst wir in der Bäckerei nicht hatten, bei uns gab es immer nur so 2 Sorten. Und auch andere Preise, bei uns in der DDR waren Lebensmittel ja gestützt gewesen, die waren genaugenommen schon zu billig. Auch bei der Miete. Ich habe im Wohnheim gelebt und habe im Monat 10 DDR-Mark dafür bezahlt. Da war auch Strom und Heizung dabei. Natürlich war das Zimmer klein und wir haben darin im ersten Studienjahr zu dritt gewohnt und es gab nur 2 Kochplatten und 4 Duschen für 50 Leute, aber man konnte es sich als Student gut leisten und dann in der Mensa essen. Wir bekamen auch alle 200 Mark Stipendium, es war ja alles gleichgeschaltet, und nach dem Abziehen der Miete blieben einem dann noch 190 Mark und davon konnte man als Student leben. Geld war da immer weniger das Problem, sondern was man halt Kaufen konnte. Klamotten waren ziemlich schwierig zu bekommen, aber Lebensmittel gab es immer, wir mussten also nicht hungern, was in anderen sozialistischen Ländern ja durchaus passierte.
»Einer hat sich hinten angestellt und der andere hat vorne geschaut, was es denn eigentlich zu kaufen gibt.«
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Wie muss man es sich denn vorstellen in der DDR an Waren zu kommen?
Man konnte nicht einfach in das Geschäft reingehen und sich zum Beispiel eine Hose kaufen. Als ich jünger war, sind wir zweimal im Jahr nach Ost-Berlin gefahren und da wurde dann eingekauft, weil es in Berlin natürlich mehr zu kaufen gab als bei uns, da mussten sie ja immer zeigen, wie toll sie sind und deshalb wurde Berlin besser ausgestattet mit Waren. Die Lage war immer so, dass man sich irgendwo mit dem Auto hingestellt hat und dann hat man irgendwo eine Schlange vor einem Geschäft gesehen. Daraufhin hat sich einer hinten angestellt und der andere hat vorne geschaut, was es denn eigentlich zu kaufen gibt. Das war das typische Einkaufsverhalten, weil wenn irgendwo eine Schlange ist, dann muss es was Wichtiges geben.
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Also war es durchaus sehr schwierig in der DDR an Waren zu kommen. Wie seid ihr an euren Trabbi gekommen?
Wir hatten einen Wartburg. Ich hatte zwei Geschwister, dadurch wäre der Trabbi ein bisschen eng geworden. Da wartete man ca. 14 Jahre. Also liefen auf alle Familienmitglieder, die über 18 waren ein Antrag auf ein Fahrzeug, auf meinen Vater, meine Mutter, meine Oma… Alle paar Jahre kam dadurch ein Auto an, und wir haben das alte Auto weiterverkauft. Und das witzige war, meistens hat man das teurer wiederverkauft als der Neuwagenpreis. Es war natürlich ein Schwarzmarkt, offiziell hat man ihn natürlich billiger verkauft. Auch auf seine Fahrerlaubnis musste man so etwa 7 Jahre warten. Typische Sachen wie Fliesen und Waschbecken wurden damals als Goldstaub bezeichnet, weil die so schlecht zu kaufen waren. Wir haben damals selber Sachen eingetauscht, Ware gegen Ware, weil DDR-Geld nicht interessant war, sondern Waren oder West-Mark. Wir haben früher Aal geräuchert und dann getauscht. Als Kind wurden Kaugummibilder getauscht, Kaugummis kamen aus dem Westen, aus den West-Paketen der Verwandtschaft und das war für Kinder das Wichtigste. Und Schokolande für die Kinder und für die Erwachsenen der Kaffee, weil es das bei uns nur ganz schlecht gab. Schokolade gab es bei uns nur aus Ersatzstoffen, das war auch ganz typisch, dass Dinge, für die man Rohstoffe aus dem sogenannten »Nichtsozialistischen Ausland« brauchte, irgendwie aus Ersatzstoffen hergestellt wurden. Kaum zu essen, wirklich furchtbar.
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Und solche West-Pakete, durfte man die bekommen?
Zumindest Lebensmittel und Klamotten durfte man verschicken. Nur keine Zeitschriften, Zeitungen und Bücher, das war strengstens verboten. Da hatte der Staat immer Angst, dass man was mit einschmuggelt. Bei uns gab es auch keine Kopiergeräte, da hatten sie ganz große Angst, dass da was kopiert wird, was gegen den Staat gerichtet ist. Als ich das erste Mal hier (in München) bei Siemens im Praktikum war, nach dem Mauerfall, habe ich erzählt dass es bei uns keine Kopierer gab, und da meinte einer, wir hätten doch ein Fax nehmen können. Da musste ich laut lachen, denn ich hätte nicht mal gewusst, was ein Fax ist.
»Zu dem Zeitpunkt war eine tolle Stimmung, alle haben sich gefreut.«
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Und wie war die Atmosphäre im Westen?
Super. Zu dem Zeitpunkt war eine tolle Stimmung, alle haben sich gefreut. Wie gesagt, wir sind in Kronach angekommen und haben bei den Katholiken gefrühstückt, dann waren wir oben auf dem Schloss, Mittagessen waren wir bei der evangelischen Kirche und dann waren wir Kaffeetrinken bei der SPD. Wir hatten ja nur die 100 Mark Begrüßungsgeld. Und das war unser erster Tag im Westen.
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Mittlerweile leben Sie ja in München. Wann sind Sie hierher umgezogen?
Nach meinem Praktikum bei Siemens. Unser Professor hatte gleich nach der Wende wegen dem Praktikum bei anderen Betrieben angefragt, aber dann ging es ja schon los, dass die ganzen Betriebe in der DDR Pleite gegangen sind, also auch die Betriebe, bei denen wir Praktikum hätten machen sollen. Dann bewarben wir uns noch vor der Wiedervereinigung bei Siemens, aber keiner wurde angenommen. Nach der Wiedervereinigung durften wir dann doch kommen. Und dann bin ich nochmal zurück. Und im Oktober 1995 habe ich dann angefangen in München zu arbeiten und seitdem wohne ich hier. Ich habe aber immer noch Familie auf der Insel.
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Gibt es noch eine bestimmte Erinnerung, die Sie besonders mit der Zeit um den Mauerfall verbinden.
Meine Eltern wollten am 15. November 1989 zum runden Geburtstag meines Onkels nach West-Berlin fahren. Da sind sie im August in die Kreisstadtverwaltung und haben den Antrag abgeben. Da wurden sie dann ganz barsch abgewiesen und sind angeblafft worden und ihnen wurde noch nicht mal der Antrag abgenommen. Und am 9. November war dann ja der Mauerfall und dann sind sie natürlich ganz entspannt am 15. November auf dem Geburtstag in West-Berlin gewesen. So war das damals.
M. Gerstendörfer